Seminarbericht

Funktionale Renormierung ist eine Methode, um aus mikroskopischen Gesetzen die Komplexität der Makrophysik zu verstehen. Eine exakte Flussgleichung für eine skalen-abhängige Zustandssumme oder ein Funktional-Integral berechnet Schritt für Schritt die Effekte von Fluktuationen auf verschiedenen Längenskalen. Diese Gleichung dient als Ausgangspunkt für Näherungen jenseits der Störungstheorie und hat bereits in einer Reihe von ganz verschiedenen Feldern zu präzisen Ergebnissen oder neuen Sichtweisen geführt.

Das Ziel dieses Seminars, das vom 1. bis 5. Mai 2023 im Physikzentrum Bad Honnef stattfand, war es, neue Anwendungsgebiete zu explorieren und dabei die Hauptgebiete bisheriger Anwendungen in der kondensierten Materie, der starken Wechselwirkung in der Teilchenphysik und der Quanten-Gravitation außen vor zu lassen. Auf dem Gebiet der Zeitentwicklung jenseits des thermischen Gleichgewichts spannten die Vorträge einen weiten Bogen von neuen überraschenden Ergebnissen zum stochastischen Wachsen von Oberflächen (KPZ-Gleichung), Turbulenz, Nicht-Gleichgewichts-Fixpunkten mit kritischem Skalenverhalten, bis zum Wachstum von großräumigen Strukturen in der Kosmologie. Ein weiterer Schwerpunkt waren erste Anwendungen der funktionalen Renormierung für aktive Materie oder in der Biophysik. Der universelle Aspekt der Methode zeigte sich auch in den Diskussionen zum quantitativen Verständnis künstlicher neuronaler Netzwerke, zellulärer Automaten und künstlicher Intelligenz. Neue Erkenntnisse zur Informationsgeometrie oder Phasenübergängen in Messprozessen eröffnen weitere Richtungen.

Die Brücke zwischen diesen auf den ersten Blick weit auseinanderliegenden Feldern bildet die gemeinsame Methodik der funktionalen Renormierung. Einen zentralen Raum nahmen daher die Vorträge ein, die diese Methode weiterentwickelten. Der Fokus lag hier bei konzeptionellen Aspekten, der Verknüpfung mit weiteren Methoden und besonders auch auf neuen Einsichten auf der numerischen Seite.

Dieses französisch-deutsche Seminar profitierte von der langjährigen Zusammenarbeit zwischen Gruppen in Frankreich und in Deutschland. Alte Kontakte wurden wieder aufgefrischt, während neue Perspektiven und Problemstellungen zusätzliche Kontakte und Möglichkeiten der direkten Zusammenarbeit entstehen ließen.

Viele Diskussions-Sitzungen, die Poster-Sitzung mit den dazugehörenden Kurzvorträgen und einfach auch der andauernde Austausch im schönen Physikzentrum in Bad Honnef ermöglichten einen intensiven Kontakt zwischen den vielen jüngeren Wissenschaftlern und erfahrenen Kollegen. Wir danken der WE-Heraeus-Stiftung für die großzügige Förderung.

Prof. Dr. Christof Wetterich, U Heidelberg
Prof. Dr. Stefan Flörchinger, U Jena
Prof. Dr. Bertrand Delamotte, Prof. Dr. Nicolas Dupuis, Sorbonne, Paris, Frankreich