Seminarbericht

Wissenschaft ist seit jeher international und setzt den freien Austausch von Ideen und Köpfen voraus. Angesichts einer zunehmenden Skepsis gegenüber der europäischen Integration und teilweise auch der Wissenschaft haben die Gremien der Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung im vergangenen Jahr beschlossen, mit einer neuen Veranstaltungsreihe ein Zeichen zu setzen und bestehende Kooperationen zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Deutschland und einem europäischen Partnerland zu stärken oder neue zu initiieren. Die Seminare werden in Kooperation mit der Deutschen Physikalischen Gesellschaft durchgeführt, die enge Beziehungen zu den Physikalischen Fachgesellschaften von Frankreich, England und Polen pflegt, mit denen sie bereits binationale wissenschaftliche Preise verleiht.

Den Auftakt zur neuen Veranstaltungsreihe machte ein Seminar zur Frage „Novel physics in living systems?“, das vom 2. – 6. September 2019 im Tagungszentrum der von CNRS und Sorbonne getragenen „Station Biologique de Roscoff“ in der Bretagne in Frankreich stattfand. Wie alle natürlichen Systeme unterliegen auch lebende Systeme den Gesetzen der Physik und bei vielen biophysikalischen Fragestellungen lassen sich existierende Methoden der Physik problemlos einsetzen. Allerdings bietet die Biologie auch Systeme, für die sich im „Werkzeugkasten“ der Physik keine geeigneten theoretischen oder experimentellen Methoden finden lassen. Dazu gehört die kollektive Dynamik (und Funktion) wechselwirkender Nervenzellen in den Netzwerken unseres Gehirns, für welche die Vielteilchenmethoden, die für wechselwirkende Teilchen oder Quasiteilchen entwickelt wurden, keine Hilfe bieten. Weitere Beispiele sind wechselwirkende Arten in der Evolutionsökologie oder das Schwarmverhalten von Fischen und Bakterienpopulationen. Für dieses gab es gerade auch in der „Station Biologique“, die aus einem meeresbiologischen Forschungsinstitut hervorging, besonderes Interesse.

Viele Vortragende stellten die Herausforderungen an die Physik durch biologische Systeme in den Vordergrund. So wurde nach neuen physikalischen Prinzipien und Phänomenen gefragt (z.B. „active turbulence“ und „active nematics“ in bakteriellen Populationen), und themenübergreifende Probleme wurden herausgestellt (z.B. der Bruch der Actio-Reactio-Symmetrie). Die Frage im Titel des Seminars zeigte dabei eine stimulierende Wirkung auf die Themenauswahl und Programmgestaltung – was sich schließlich in einer großen Zufriedenheit der Teilnehmer aus beiden Ländern auswirkte. Wir danken der WE-Heraeus-Stiftung für die Initiative sowie die finanzielle und organisatorische Unterstützung.

Prof. Dr. Theo Geisel, MPI für Dynamik und Selbstorganisation, Göttingen
Prof. Dr. Hugues Chaté, CEA Saclay