Seminarbericht

Chiral induzierte Spin-Selektivität (CISS) ist ein Phänomen, das seit etwa 30 Jahren experimentell erforscht wird. Dabei hängt die Wahrscheinlichkeit eines Elektrons, durch ein chirales Molekül oder einen chiralen Festkörper transportiert zu werden, von der Ausrichtung seines Spins ab. Interessanterweise beobachtet man dies in geschlossenschaligen, also nichtmagnetischen Molekülen und Festkörpern. Eine Erklärung hierfür ist die Spin-Bahn-Kopplung, kombiniert mit dem Bruch von Inversions- und Zeitumkehrsymmetrie. Allerdings erstaunt es, dass die Spin-Selektivität so groß ist (bis ca. 80%), obwohl die intrinsische Spin-Bahn-Kopplung der beteiligten Systeme oft klein ist (zum Beispiel DNS und Peptide, die aus leichten Atomen aufgebaut sind). Hierfür gibt es aktuell keine allgemein akzeptierte Erklärung.

Ziel dieses Seminars, das vom 5. bis 8. Dezember 2022 im Physikzentrum Bad Honnef stattfand, war es, Wissenschaftler:innen aus Theorie und Experiment zusammenzubringen, um in Richtung einer solchen Erklärung Fortschritte zu machen. Die Vorteile eines besseren Verständnisses wären immens – neben dem grundsätzlichen Interesse und biologischer Relevanz kann CISS unter anderem Elektrokatalyse (und damit Wasserstoffproduktion) günstiger machen und wird für die Initialisierung und das Auslesen von Qubits diskutiert. Aktuell tappt man aber im Dunkeln, was das gezielte Design von geeigneten Systemen für solche Anwendungen angeht.

Im Rahmen des Seminars wurden in 20 Vorträgen viele Aspekte von CISS angesprochen, darunter aktuelle Übersichten über Elektronenleitungs- und Photoelektronen-Experimente, die Synthese interessanter chiraler Systeme, erreichte und mögliche neue Anwendungen. Hinzu kamen neue theoretische Entwicklungen wie einen Mechanismus für die Spinpolarisierung der Elektronenstruktur durch CISS, die Bedeutung der Elektron-Phonon-Kopplung, die Aharonov-Casher-Phase oder die Bedeutung der Grenzfläche zwischen Molekül und Elektrode. Es wurde klar, wie vielfältig CISS im Experiment ist. So hängt der Effekt zum Beispiel je nach System und Bedingungen unterschiedlich von der Temperatur ab, und ist es nicht immer trivial, hier den Einfluss der Temperatur auf die Spin-Selektivität von ihrem Einfluss auf den Ladungstransport an sich zu trennen. Ebenfalls wurde klar, dass ein besseres Verständnis neue Arten von Experimenten erfordert, unter anderem bei tiefen Temperaturen und unter Verwendung von Kern- und Elektronenspinresonanz sowie Rastertunnelmikroskopie. Hierzu wurden interessante neue Entwicklungen vorgestellt, unter anderem in einer Postersitzung von sehr hoher Qualität, an der sich neben etablierten auch viele hervorragende Nachwuchswissenschaftler/innen beteiligten.

Es gab viele positive Rückmeldungen der 55 Teilnehmer, gerade auch von den Jüngeren, und es wurde der Wunsch geäußert, sich in diesem Rahmen noch einmal zu treffen. Ein großer Dank geht an die Wilhelm und Else Heraeus-Stiftung für die großzügige finanzielle und hervorragende organisatorische Unterstützung.

Prof. Dr. Carmen Herrmann, U Hamburg
Prof. Dr. Jonas Fransson, U Uppsala, Schweden